Eine Gruselgeschichte von Judith Holfelder (12 Jahre)
Krass! Lasst euch von diesem sonnigen Bild nicht blenden! Ich hab eine Gruselgeschichte gefunden, die ich mit zwölf Jahren in mein Tagebuch geschrieben habe. ich weiß nicht genau, ob das war, bevor ich Stephen King entdeckt habe, oder danach. Ungefähr um die Zeit habe ich nämlich angefangen, Kings Bücher alle hintereinander weg zu lesen, in so einer Art Versuch, meine relativ massiven Ängste (einschlafen, etc) zu exorzieren. Hat mittelmäßig funktioniert, aber immerhin hab ich einen Haufen toller Bücher gelesen. Diese Geschichte hier ist auf jeden Fall auch ungefähr um den Dreh rum entstanden.
Brrrr:
Judith
Das Orchester
Mariella hatte Angst. Die junge Frau konnte selbst nicht verstehen, denn es war alles in bester Ordnung. Es war Hochsommer, und in Paris war so heiß, dass ich die ganze Bevölkerung entweder im Schwimmbad oder am Seineufer aufhielt. Doch Mariella lief es bereits kalt den Rücken herunter, wenn sie allein durch eine enge Gasse gehen musste, und ihr Herz krampfte sich zusammen, als sie im Büro vor der Schreibmaschine saß und sich einmal sacht der Vorhang bewegte. Plötzlich bemerkte sie, dass es in dem großen Bürohaus, wo sie arbeitete, auffallend still war. Ihr kam der Gedanke, dass sie vielleicht allein sein könnte. Ihr Atem ging schneller, und ihre Handflächen wurden feucht. „Vielleicht sind alle schon gegangen und haben mich hier vergessen?“ dachte sie. Dann wäre sie eingeschlossen. Der Gedanke, die Nacht alleine in dem riesigen, leeren Haus verbringen zu müssen, war ihr unerträglich. Von plötzlicher Panik ergriffen, zog sie sich mit zitternden Händen den Mantel an und verließ hastig den Raum. Sie rannte fast einen ihrer Kollegen um, so eilig hatte sie es ins Freie zu kommen.
Als sie draußen war, schlug sie den Kragen hoch. Trotz der Hitze fröstelte sie. Sie fühlte sich beobachtet und hatte das Gefühl, sie würde verfolgt. Als auf der Straße ein Mann hinter ihr her pfiff, begann sie zu rennen. Als sie außer Atem anhielt, erkannte sie, dass sie sich in einem ihr völlig unbekannten Stadtteil befand. Erschöpft lehnte sie sich an eine Häuserwand und versuchte, ihre Gedanken zu ordnen.
„Vor was bin ich eigentlich weggelaufen?“ überlegte sie. Was ist das nur, wovor ich in letzter Zeit immer Angst habe? Es war wirklich zum Verzweifeln. Bei dem geringsten Anlass setzte ihr fast das Herz aus. Ihr fiel ein, dass sie die ganze Zeit, wo sie gerannt war, eine Art kaum hörbarer, beklemmender Musik in ihrem Inneren gespürt hatte. Jetzt war sie zum ersten Mal seit langer Zeit wieder ganz ruhig und sie sah sich die Gegend, in der sie gelandet war, genauer an. Ihr fiel ein, dass ein paar Straßen weiter ihre Freundin Valerie wohnte. Sie beschloss, sie zu besuchen und um Rat zu fragen. als sie die Tür des dunklen Altbaus öffnet und das schwach beleuchtete Treppenhaus vor sich sah, war plötzlich dieses beklemmende Gefühl wieder da, und sie glaubte auch wieder, die Musik zu hören. Sie wollte fast umdrehen und weglaufen, aber dann überwand sie sich und stieg mit zitternden Knien die Treppe hinauf.
Heil im dritten Stock angekommen, stand sie unschlüssig vor der Haustür ihrer Freundin. Sie hatte das Gefühl, dass, wenn sie die Klingel drückte, irgendetwas Schreckliches passieren würde. Mit geschlossenen Augen und angehaltenen Atem drückte sie einmal kurz auf die den Klingelknopf. Bei dem Klingelton blieb ihr fast das Herz stehen. Unsichere Schritte nähten sich der Tür. „Wenn da jetzt jemand anderes ist? Oder… Etwas anderes?“ dachte sie, und ihr Herz schlug schneller. Doch da sagte schon Valeries vertraute Stimme: „Wer ist da?“ Marielle bemerkte, dass die Stimme ihrer Freundin seltsam ängstlich klang. Ob sie auch…? „Ich bin’s!“, sagte sie und erschrak sich beim Klang ihrer eigenen Stimme. „Ach, du bist, Marielle!“, sagte Valerie erleichtert und öffnete die Tür. Marielle erschrak bei ihrem Anblick. Die Haare standen von ihrem hübschen Kopf ab, und sie sah so aus, als hätte sie ewig nicht geschlafen. Ihre Bewegungen waren fahrig, und sie zitterte. „Hallo“, sagte sie und versuchte, ein Lächeln. Marielle folgt ihr ins Wohnzimmer. Seit Tagen war hier nicht mehr aufgeräumt worden. Ihr Blick fiel auf den Spiegel, und sie sah, dass sie nicht anders aussah als ihre Freundin. Die erzählte ihr ganz aufgelöst, dass auch sie seit Tagen von der Angst verfolgt wurde, und auch sie hatte die unheimliche, leise Musik gehört. Marie verabschiedete sich bald und fuhr mit schrecklichen Ahnungen nach Hause. Nach langem Nachdenken kam sie zu dem Schluss, dass die Angst eine Folge einer neuartigen Krankheit sei, und ging, alle Lichter brennen lassend, ins Bett.
Am nächsten Morgen wachte sie sehr früh auf. Sie hatte geträumt, dass sie bei immer lauter werdender Musik durch die nächtlichen Straßen von Paris hastete . Nach dem Frühstück rief sie gleich bei Valerie an, um ihr von der Idee mit der Krankheit zu erzählen. Niemand nahm ab. Marielle beschlich ein ungutes Gefühl, und sie nahm die nächste Bahn, um nach der Freundin zu sehen. Angekommen blieb ihr fast das Herz stehen. Vor dem Altbau stand ein Krankenwagen! „Wer ist das?“ fragte sie einen der Sanitätermit stockender Stimme.
„Ein junges Mädchen aus dem Dritten. Wir kamen zu spät. Herzschlag. Hat wohl etwas schwache Nerven!“ Marielle schnürte sich die Kehle zusammen, ihre Knie drohten, nachzugeben.
Sie wusste später auch nicht mehr, wie sie nach Hause gekommen war. Als sie sich gefasst hatte, sagte sie sich: Was es auch ist, ich muss es finden!
Falls es eine Krankheit wäre, sagte sie sich, müsste etwas darüber in der Zeitung stehen, also kaufte sie von jeder Pariser Zeitung ein Exemplar. In allen stand etwas von sehr vielen Herzschlagopfern.
Marielle fand heraus, dass in einem bestimmten Stadtteil die meisten Toten gegeben hatte. In diesem Stadtteil nahm sie sich ein Zimmer. Sie hatte sich fest vorgenommen, der Sache auf den Grund zu gehen. Sie bemerkte gleich, dass das Angstgefühl stärker geworden war. Es drückte ihr auf den Magen, sie hatte immer das Gefühl, jemand stände hinter ihr und wollte sie anfallen. Sie hatte Kopfschmerzen und konnte nachts nicht schlafen. Auch die anderen Gäste des Hotels waren seltsam nervös. Eines nachts hörte Marielle Krankenwagen. Irène, einer ihrer Nachbarinnen, hatte einen Schlaganfall erlitten.
Ihr Verstand riet ihr, wieder umzuziehen, doch sie war neugierig geworden. Sie konnte sich nicht durchringen, etwas zu unternehmen.
Aber eines Nachts, als sie mal wieder nach einem grässlichen Angsttraum schweißgebadet aufwachte, sagte sie sich, dass wirklich nichts schlimmer sein könnte, als diese ständige, krankmachende Angst weiter zu ertragen.
Schwankend stand sie auf und ging aus dem Haus. Es war sehr dunkel, und sie glaubte, in jedem Schatten eine Gestalt zu sehen. Als sie sich an das Dunkel gewöhnt hatte, ging sie die Straße hinunter zu Seine. Je näher sie dem Wasser kam, desto lauter wurde die Musik. Sie war nicht wirklich hörbar, Marielle spürte sie tief in sich drin. Jetzt war sie bei dem dunklen, unheimlichen Fluss angelangt. Unter ihr in der Ufermauer gähnte ein großes, schwarzes Loch, aus dem die Musik zu kommen schien.
Sie stieg ins Wasser und kroch in die Öffnung hinein. Sie befand sich in einem langen, feuchten, dunklen Gang. Die Musik wurde immer lauter, je weiter sie vordrang. Die Angst zerriss sie fast. Die Musik dröhnte in ihrem Kopf. Sie konnte sich kaum auf den Beinen halten.
Langsam schwankte sie auf eine große Tür zu. Die Musik schwoll zu einem unerträglichen Getöse an. Sie trat durch die Tür, und ihre Augen weiteten sich vor Entsetzen, denn sie sah das Orchester.
Hunderte von mehr oder weniger verwesten Leichen spielten auf Instrumenten aus weißen Knochen eine grauenvolle Melodie. Jetzt löste sich eine der Kreaturen aus der Menge und schwankte langsam auf sie zu. Marielle wollte schreien, doch ihre Stimme versagte. Sie erkannte die halb verfaulen Züge ihrer Freundin Valerie!
Hinter ihr krachte die Tür ins Schloss.
Die Gestalt blieb vor ihr stehen, warf den Kopf in den Nacken, lachte schallend und drückte dem entsetzten Mädchen eine Geige in die Hand.