Ein völlig unauffälliges Gehirn und andere Geschenke
Zu meinem Geburtstag im November hat mir meine Mutter einen schönen, langen Brief geschickt, in dem sie mir wünscht, mein nächstes Jahr möge doch bitte deutlich erfreulicher verlaufen, als das letzte. Darüber hab ich mich sehr gefreut, und recht hat sie.
Nur, und das wird Mutterherz erfreuen: mein letztes Jahr war irgendwie gar nicht so übel. Ja, ich habe große Teile meines Sommers im Bett verbracht, und im Rentnergang um den Urbanhafen schleichend. Und ja, eine Meninigitis/ ein Halswirbelsäulensyndrom (die Jury tagt noch, was es wirklich war) ist wirklich sehr, sehr unerfreulich, und ich möchte niemandem empfehlen, das nachzumachen, ohne Not. Da war eine Menge Heulen und Zähneklappern in meinem Jahr, höllische Schmerzen und viel Angst und Irrwege, Krankenhaus und lange Nadeln in Wirbelsäulennähe.
Und ja, ich habe immer noch einen Knacks weg. Und ich werde mich wahrscheinlich genau dann wieder normaler fühlen, wenn meine SMS –Spracherkennung aufhört, jeden unfertigen Satz mit „Krankenhaus,“ „Hirnhäute“ oder „Lumbalpunktion“ vollenden zu wollen. Let it go, Siri.
Und trotzdem: als meine Mutter mir diesen schönen Wunsch geschickt hat, musste ich kurz überlegen, wovon sie spricht. Nicht (auch, aber nicht nur!), weil ich so abgebrüht und super Zen bin und so –sondern auch, weil ich für einen kurzen Moment VERGESSEN hatte, wie Scheiße das Alles war. Die Zeit heilt, und so. Aber auch, und das war das Erstaunliche: weil so vieles so rundum entzückend und verzaubert war in diesem Kranksein.
Ich experimentiere seit vielen Jahren mit den unterschiedlichsten Versionen von sogenannten „Gratitude Lists“ (google it, it´s fun. Oprah macht´s auch!). Weil ich gerne Listen schreibe, und weil Dankbarkeit die direkteste Abkürzung zu warmen, fuzzigen Gefühlen in der Herzgegend ist.
(Und, für alle, die Lust auf einen Schlenker haben: weil ich vor langer Zeit mal die taoistische Geschichte vom Bauern und seinem „Glück im Unglück“ gehört habe, hier nachzulesen in verdichteter Form von Mascha Kaleko: http://www.kirchner-raddestorf.de/jikirchner/junk/legende.htm)
Also habe ich dieses Mal versucht, aufzuschreiben, was mir die Krankheit eigentlich alles geschenkt hat. Von den Ergebnissen– teilweise sehr profaner und praktischer Natur, teilweise tief und wahr und umwälzend – war ich so verblüfft, dass ich sie hier mit euch teilen möchte. Bitte trotzdem nicht nachmachen, das mit dem doll krank werden. Nur das mit dem Tagebuch und der Dankbarkeit, vielleicht.
Übrigens: die meisten der tollen Änderungen in meinem Leben wurzeln in der Annahme, ich habe ein Wirbelsäulensyndrom, daraus wurde drei Monate später eine Meningitis –Diagnose, an der gibt´s inzwischen aber auch wieder Fragezeichen. Heißt: einige der hier aufgelisteten tollen Techniken waren zur Behandlung meiner eigentlichen Krankheit vielleicht Bullshit. Vielleicht auch nicht. Aber: jetzt hab ich halt damit angefangen und jetzt tun sie mir trotzdem total gut.
Hier meine vorläufige Liste der unwahrscheinlichen Krankheitsgeschenke, lose geordnet:
Ich habe mir endlich mehrere tolle Kissen gekauft, mich ausgiebig durchprobiert und wache deutlich unzerknautschter auf, als in all den Jahren davor.
Ich habe mir eine Tasche gekauft, die man auf der Hüfte trägt, anstatt auf den Schultern. Macht das unbedingt!!!!
Ich habe mir Dragon Dictate gekauft, weil ich schreiben wollte, obwohl meine Schultern so wehgetan haben, dass ich die Hände nicht heben konnte. Davor habe ich lange genug still gehalten, um zu merken, wie sehr ich schreiben möchte. Deshalb werde ich euch fürderhin mit Blogtexten beballern, dass es nur so schallert. Ohne dafür die Hände zu heben. Muahahahahar.
Ich habe mit Yoga– Pilates angefangen, und auch wenn das zum Beispiel im Rückblick nicht das naheliegendste Mittel gegen Meningitis sein mag – schadet ja trotzdem nichts, mit 40, nicht wahr.
Ich habe einen tollen Osteopathen gefunden, und, mal ehrlich, den kann man eh ganz gut in seinem Leben haben.
Bei all der Körperarbeit habe ich nebenbei aus Versehen herausgefunden, dass ich mein Asthma über die Muskulatur und über Dehnung drastisch verbessern kann, und wahnsinnig viel für meine Stimme machen. Und ich habe das Gefühl, einen neuen Werkzeugkasten an der Hand zu haben, für meinen Beruf und für alles, was mir wichtig ist. Meine Körperachtsamkeit ist stark sensibilisiert und ich freue mich sehr darauf, auf meinen Körper jetzt auch zu achten, wenn er nicht wehtut.
Auch schön: durch das MRT, auf dem die Meningitis (nach drei Monaten) gesehen wurde, weiß ich nun immerhin, dass ich ein ansonsten „völlig unauffälliges Gehirn“ besitze, das ist doch auch schon mal was! Und meinen Mann amüsiert es anhaltend sehr.
Ach so, und: ich würde ab jetzt deutlich schneller ins Krankenhaus gehen, wenn sich irgendwas in meinem Körper so drastisch falsch anfühlt – ich hatte Kontakt zu drei Ärzten, muss man dazu sagen, und das Krankheitsbild war sehr untypisch. Ist also nicht so, als hätte ich einfach die Zähne zusammengebissen und eine halbtote Ziege im Bad über dem Kopf herumgeschleudert, oder so. Aber nächstes Mal gehe ich bei solchen Schmerzen ins Krankenhaus, und ihr bitte auch.
Ich habe (Trommelwirbel)… angefangen ZU SCHLAFEN, WENN ICH MÜDE BIN!!!! Krass!!! Das wünsche ich mir, in der Tiefe meines Herzens, seit mindestens zehn Jahren. Und jetzt war ich endlich so im Arsch, dass sich keiner mehr wundert, wenn ich um halb elf schlafen gehe. Das mache ich jetzt seit drei Monaten, knallhart, und wache nun seit Wochen VOR DEM WECKER auf. Von alleine! Wach! Ausgeruht! Dann setze ich mich an meinen Schreibtisch, mache die Tageslichtlampe an, und schreibe meine drei Morgenseiten, BEVOR ich die anderen wecke. Diese stillen, wachen, leichten zwanzig Minuten sind wie verzaubert und ein Segen für den gesamten Tag. Schon alleine dafür hat sich die Scheiße gelohnt.
Ach so, und: ich hatte eine entzückende, innige, stille, furchteinflößende, liebevolle Zeit mit meinen Lieben. Ich möchte da hier gar nicht viel zu schreiben, aber: wer rausfinden möchte, mit was für einem geilen Typen er verheiratet ist, muss mal ein bisschen krank werden.
Ich habe alle meine wichtigsten Freundschaften intensiviert. Wie soviele Leute, die Kinder und einen ernstgemeinten Beruf haben, vernachlässige ich meine Freunde. Nicht im Geiste, natürlich, aber in echt, so im Sinne von Anrufen und so. Dazu kommt, dass ich schlecht darin bin, zu merken, wann ich bedürftig bin, und Freunde anzurufen, um mir Unterstützung zu holen. So eine Krankheit sortiert im Übrigen auch zuverlässig, welche Freunde durch ihre Nähe tatsächlich unterstützen, und welche nicht. Ich habe zu meiner großen Freude festgestellt, dass ich nur noch unterstützende Freundschaften in meinem Leben habe, keine Angsteinflößer, Hysteriker, Vampire. Nichts. Nur tolle, tolle Leute. * Disclaimer: ich habe alle diese tollen Freunde schon wieder wochenlang nicht gesehen. Es ist WIRKLICH schwierig, Freundschaften zu pflegen, wenn man… siehe oben.
Und noch etwas: so traurig es für mich war, Konzerte absagen zu müssen – durch die Eindeutigkeit dieser Krankheit, und die Schmerzen, die einem wirklich jeden Impuls zu arbeiten, vergällen, habe ich endlich mal wirklich losgelassen. Meine Platte, meine Arbeit, mich, ein bisschen.
Und ich hab mir die Sachen angeguckt, die mir im Nacken saßen, die mir meinen Kopf haben flackern und zappeln und krampfen lassen, schon bevor sich das Ganze so zugespitzt hat. Und ich hatte das Gefühl, dass sich eine Nabelschnur löst. Ich habe an vielen Dingen für kurze Zeit das Interesse verloren, und nur ein ausgewählter Teil dieses Interesses ist bisher zurück gekommen.
Direkt bevor ich krank wurde, habe ich viel darüber nachgedacht, wie viel ich wohl noch loslassen könnte, ohne dass all das Losgelasse dann langsam einer Berufsunfähigkeit gleichkommen würde.
Und jetzt hab ich losgelassen, für eine ganz schön lange Weile. Das Internet, diese Judith Holofernes, all das. Dann kam die Anfrage für Sing meinen Song, und das ist doch irgendwie… keine Berufsunfähigkeit, auf jeden Fall. Und jetzt wache ich morgens auf und habe komische Ohrwürmer und stehe auf, direkt auf mein Spielbein. Und dass ich damit jetzt doch wieder rausgehe, in die Welt, und was wollen soll, das macht mir erstaunlich wenig Angst. Weil es nicht soooo wichtig ist, was daraus wird.
Mögen alle Wesen glücklich sein und Frieden finden und ätzende Klimaanlagen im Backstage ausmachen!
Judith