

Notizen aus… Freiburg, 1985: Kann ich eine Barbie?
„Neeeelia, kann ich eine Barbie?“…… „Keine Ahnung, kannst du?“ Frustriertes Kinderschweigen, angenervtes Kinderaugenrollen, barbiedünn zusammengepresste Kinderlippen. Aber ja, klar, das war die einzig angemessene Antwort auf meine Frage. Zwar war „kann ich…“ natürlich ein Euphemismus für „kaufst du mir…“, genau wie „Neeeelia“ ein Euphemismus für „Mama“ war, aber meine Mutter Cornelia nahm mich, wie so oft, beim Wort. Und hatte daher allen Grund, sich zu fragen, ob ich – ihre kommunensozialisierte, innerlich wie äußerlich zerzauste Hippietochter -wohl eine Barbie könne. Dass ich keine Lackschuhe konnte, hatte ich wenige Wochen zuvor eindeutig bewiesen. Ich hatte tagelang gequengelt. Dann war ich für einige Stunden triumphierend in den erquengelten Schühchen herumgetaumelt, mit dem gequälten Lächeln einer amerikanischen Kinderschönheitswettbewerbsverliererin. Nur um dann zerknirscht zuzugeben, dass ich das eben offensichtlich nicht konnte: Lackschuhe. Und das, obwohl wir jetzt nicht mehr in Berlin Kreuzberg, sondern in Freiburg im Breisgau wohnten, wo man, davon war ich überzeugt, Lackschuhe gut hätte gebrauchen können. Ich war frisch eingeschult, und aufgrund meines – Achtung dritter Euphemismus – „unbürgerlichen Hintergrundes“ frisch auf die Kosenamen „Punker“ und „Niemand“ getauft worden – „Niemand“ natürlich, weil ich nicht wirklich getauft war und daher auch formal nicht existierte.
Aus dieser psychosozialen Notlage heraus hatte ich erste zaghafte Anpassungsversuche gemacht und mit dem bräsigen, hellrosa Nachbarskind Sabine Kontakt aufgenommen. Und Sabine, soviel war mal klar, konnte Barbies. Viele Barbies. Barbielandgüter, Barbiepferde, Barbie –Personal -Shopper, Barbielaufsteg, Barbiefriseursalon mit Barbie –Brasilian –Wax -Studio, Barbietownhäusle, Barbiebabies samt Operationstisch für die geplante Barbiekaiserschnittentbindung zur Erhaltung des Barbie –Lovechannels und der barbielichen Figur. Und ich in meiner kindlichen Verzweiflung hatte es tatsächlich geschafft, mehrere Spielsessions durch gekonntes Mimikri heil und unenttarnt zu überstehen. Wie Sabine auch hatte ich die Barbie einfach forsch bei den Fußgelenken gepackt und sie dann in jenem barbietypischen, fußgefesselten Wackelgang durch das hellrosa Kinderzimmer geschoben. Alle kulturellen Referenzen auf meinen brandneuen Lieblingsfilm „Flucht in Ketten“ hatte ich mir verkniffen. Und so musste mich Sabine am Ende dieser Verabredungen, formal existent oder nicht, beinahe für bespielbar gehalten haben. Wahrscheinlich hatte sie mich einfach zu ihrer imaginären Freundin erkoren.
Und so stand ich nun in unserer sechs Quadratmeter –Dachgeschossküche und behauptete mit dem Mut der Verzweiflung, sehr wohl eine Barbie zu können. Mindestens eine. Hinter den Augen meiner Mutter schien ein Film abzulaufen, der töchterliche Spielszenen aus den vergangenen Monaten und Jahren zeigte: den exzessiven, wenn auch besonnenen Einsatz von Schnitzmessern, den Bau von Hütten und Höhlen, das Zermahlen von getrockneten Bohnen zu etwas beinahe Essbaren, oder aber sexuell aufgeladene, meist auf Kreuzfahrtschiffen angesiedelte Rollenspiele mit meiner Berliner Freundin Aline. Wobei letzteres Spiel das einzige war, dass keine verdeckte Variante des grundlegenden Sujets “Auf der Flucht“ darstellte, mit mir in der Rolle des Dr. Richard Kimble.
Während ich unruhig auf ihr Urteil wartete, schien meine Mutter am Ende ihres kleines nostalgischen Super -8 -Filmchens angelangt und begann wohl gerade, in Gedanken das obligatorische moralisch -amüsierte Erzählerstimmen –Abschlussresumée zu formulieren: „Barbies… Tragen wir nicht alle eine kleine Barbie in uns? Für manche…“ Ich sah ihre zuckenden Mundwinkel, aber ich verstand nicht, was daran so lustig sein sollte: ich war eben von „Auf der Flucht“ zu „Flucht in Ketten“ graduiert. Das normalste auf der Welt für eine Sechsjährige.
Und meine Mutter, in ihrer unendlichen Weisheit, erfasste instinktiv, was für mich auf dem Spiel stand. Sie behielt ihr Resumée für sich. Sie verzichtete sogar auf den naheliegenden Barbie/ Lackschuhvergleich. Und wenige Tage später überreichte sie mir mein fußgefesseltes, kurviges Geschenk. Wie habe ich meine Cowboymutter in diesem Moment geliebt! Trotz meines zarten Alters war mir schamvoll bewusst, welche kulturelle Anpassungsleistung es für sie bedeutet haben musste, bei Karstadt eine Barbiefachberatung über sich ergehen zu lassen. Und sie hatte sich definitiv beraten lassen, denn was ich da voll panischer Vorfreude in den Händen hielt, war tatsächlich eine Premium –Barbie, blond und langmähnig und hartkurvig wie sie sein musste – und nicht, wie ich mir in den Nächten vorher ausgemalt hatte, irgendein Barbie –Ersatz oder einer von Barbies minderwertigen weiblichen Sidekicks, die eigentlich nur zum Barbie -Bewundern hergestellt werden.
Mit klopfendem Herzen verzogen Barbie und ich uns in mein Zimmer. Ich schloss meine Augen und malte schnell in meiner Phantasie alles rosa an: das rotzgrüne Secondhand –Kindermobiliar, den War-schon-drin –Teppich, die zerrrupften Grünlilien und Avocadopalmen. Alle meine räudigen Stofftiere bekamen imaginäre Schleifchen umgebunden, mein gesamtes Bücherregal bestückte ich im Geiste mit Wendyromanen. Jetzt konnte es losgehen. Beherzt fasste ich Barbie an den Knöcheln. Durchatmen. Fokus. Wir brauchen ein Ziel. Wir brauchen… ein… wir brauchen… ein… wir brauchen… wir brauchen… wir brauchen. Ach verdammt.
Ich wollte es nicht wahrhaben, doch nach nur anderthalb Minuten alleine mit der Puppe hatte sich mir das Prinzip Barbie in seiner ganzen Härte offenbart: Mit einer Barbie kann man nicht spielen, mit einer Barbie kann man nur brauchen. Oder, im besten Fall: haben.
Zum Beispiel ein Haus! Hatten wir aber nicht. Ein Pferd! Hatten wir auch nicht, nur ein Nilpferd, das schnell unter seiner zierlichen Last zu ächzen schien. Einen alleine zum Barbiebewundern eingestellten Sidekick? Mein Lieblingskuscheltier, ein selbst genähter Snoopy mit Sockenohren und toten Sockenaugen verweigerte sich. „Charakterliche Differenzen“. Ich beschloss, alle Hoffnung auf Hilfe von Außen aufzugeben und Barbie einfach in meine alten Spiele zu integrieren. Voll böser Vorahnungen versuchte ich, Barbie den Griff meiner Bohnenmühle in die Hand zu drücken. Zu groß! Ich wackelte Barbie an den Füssen in meine am Vorabend gebaute Höhle. Sie verdrehte die Augen. Und auch mir erschien den Anblick der aufgedonnerten kleinen Frau in diesem rustikalen Ambiente irgendwie unpassend – man bedenke, damals gab es noch keine Dschungelcamps. Auf die unterhaltsame Idee, der Barbie Käfer oder Blutegel über´ s Gesicht laufen zu lassen, kam ich also auch nicht. Mein Blick wanderte zu den Schnitzmessern. Von den Fantasien erschrocken, die in mir aufstiegen, wendete ich ihn sofort wieder ab.
Nach einer Schweigeminute beschloss ich, Barbie eine eher passive Aufgabe im Gesamtgefüge meines Spieluniversums zuzuweisen: in Rückbesinnung auf mein altes Lieblingsthema bot ich ihr die Rolle von Dr. Richard Kimbles ermordeter Ehefrau an – und sie, in realistische Einschätzung ihrer Alternativen, akzeptierte. Liebevoll legte ich sie mit dem Kopf in einen dekorativen Marmeladenfleck auf dem Fensterbrett, einen auf eine Bohne gemalten Telefonhörer in der flehentlich ausgestreckten Hand. Dort in ihrem Marmeladenfleck sollte sie auch liegen bleiben. Bis auf einige wenige kurze Auferstehungsmomente, zum Beispiel wenn meine Mutter überraschend ins Zimmer kam und ich Barbie derangiert und marmeladenhaarig durchs Zimmer paradierte. Oder für gelegentliche Ausflüge zu Sabine, für die ich ihr sogar die Marmelade aus den Haaren wusch. Bis dann wenige Wochen später sowieso keiner mehr mit mir spielen durfte – weil ich im Hof Tee aus Kräutern, beziehungsweise Efeu, gekocht und ihn mit den Worten „damit kann man sich ganz weit weg zaubern“ Sabine und ihren Freundinnen angeboten hatte.
P.S: Hinter dem Bild findet sich mehr schöner Barbiequatsch.
P.P.S.: Der Text wurde in gekürzter Fassung schon veröffentlicht im Freitag –
http://www.freitag.de/autoren/der-freitag/die-schone-und-der-marmeladentod
… und in etwas länger vom Literaturbüro Freiburg:
http://www.literaturbuero-freiburg.de/cms/uploads/media/Judith_Holofernes.doc