

Notizen aus Kreuzberg/ der Vergangenheit (1980): Dem Deva in die Schuhe pinkeln
Ein Deva ist ein engelsartiges Wesen, ein höhere Daseinsform, die uns Menschen mit ihrem Licht umgibt und unterstützend begleitet. In Indien gibt es sie an jeder Ecke, gerne in der Nähe freundlich – knopfäugiger Vorzeigeinder auf Nadelkissen.
In Deutschland kann man jene Lichtwesen natürlich auch finden, hier muss man allerdings sehr genau hingucken, zumindest in Berlin, zumindest heutzutage.
Im Berlin der späten Siebziger Jahre jedoch waren sie um Einiges leichter zu finden: damals war ein Deva nämlich auch gerne mal ein lang – und fetthaariger junger Mann, ursprünglich vielleicht ein Wolfgang oder Roland, jetzt gerade frisch aus Indien zurückgekommen, wo er sich selbst gesucht, aufgespürt und für ziemlich geil befunden hatte. Eine Tatsache, die jetzt, nach seiner Rückkehr, durch extravagante Namensgebung kundgetan werden sollte.
Um mögliche Gegenwehr beim Mitlichtumgeben seiner Mitmenschen auszuschließen, fing Wolfgang –Roland, der Deva, erst mal in einem Kinderladen an, in unserem nämlich. Wahrscheinlich nahm er an, dass wir Kinder, die er für Engeln sehr ähnlich hielt, ihn in seinem leuchtend hellen Wesen erkennen und unsererseits mit Licht und Liebe überschütten würden. Danach, so dachte er sich wohl, könnte er vielleicht an den Müttern arbeiten, und danach, vielleicht, an der ganzen Welt.
Wie hätte er ahnen können, dass ihn jene Kinder binnen kürzester Zeit als weniger engels – denn arschgleich erkennen und daher den Wunsch entwickeln sollten, ihn mit ganz Anderem als mit Licht zu überschütten. Ein Urteil, dass nur wegen mangelnder Durchschnittskörpergröße leicht abgewandelt werden musste.
Wir, der Kinderladen Känguru, verteidigten und markierten unser Territorium mit Inbrunst. Dieses Territorium bestand aus einer siebzig Quadratmeter großen Ladenwohnung in der grauen, staubigen Urbanstraße in Berlin Kreuzberg, in der es kaum Bäume und kaum Tageslicht gab – und in der sich die Jahreszeiten daher hauptsächlich durch die unterschiedliche Intensität des Hundekackedufts dazustellen versuchten.
Hinten dran an der Ladenwohnung gab es einen kleinen Hof mit einem Garten, komplett ausgestattet mit Klettergerüst und einer Rattengift streuenden Hexe, die uns alle tot sehen wollte. Es war perfekt, wir brauchten nichts Anderes. Und was Engel anging, so hatten wir schon einen namens Birgit.
Birgit war rund und süß wie ein Apfel, und für uns war sie mit ihren siebzehn Jahren der Inbegriff von Mütterlichkeit und genereller Sanftmut. Als ich sie neulich, nach knappen dreißig Jahren auf der Straße wieder traf, eine Horde rotznasiger Kreuzberger Frechmaden im Schlepptau, sah sie genau so aus wie in meiner Erinnerung. Nur weniger rund, aber das kann damit zu tun haben, dass sie wahrscheinlich niemals besonders rund war und ich nur das Karnevalsfoto von ihr gespeichert habe, auf dem sie als Raupe Nimmersatt verkleidet war.
Birgit war für uns so vollkommen, dass wir keine anderen Engel neben ihr dulden wollten. Auch ihre Kurzzeit –Kollegin Christine mit dem flotten Kurzhaarschnitt, deren sprödes Auftreten keine wirklichen Engelsambitionen durchscheinen ließ, hatte keinen leichten Stand. Christine jedoch, anders als der Deva, wurde nur geschnitten. Nicht in den Schuh, nicht in den Fuß, aber ganz sicher doch ins Herz. Auf den Fotos unserer Kinderladenreisen sieht sie aus, als würde sie versuchen, vom Spreewald aus mit geblähten Nüstern und krauser Nase bis nach Kreuzberg hinüber zu riechen. Man weiß nicht ob aus Abscheu für ihre entmutigende Aufgabe – zehn jammernde Kinder durch den Wald zu schubsen – oder aus Heimweh nach der hundebekackten Urbanstraße.
Der Deva, der natürlich nicht Deva, sondern „der Deva“ hieß, war uns vom ersten Tag an ein Schmerz in der Hüfte. Er sprach leise und sanftmütig, wenn er toben und brüllen sollte, er fand sich selbst beim Uns -Gutfinden gut, anstatt uns einfach nur gut zu finden, er ging in sich, wenn wir wollten dass er aus der Tür geht und nicht mehr wiederkommt.
Die ersten Wochen versuchten wir es mit den Waffen, in unserer kurzen Lebenszeit zu führen gelernt hatten: „Warum? Warum?“, „Du bist doof, hihi“, oder: Beißen. Janne und Sebastian übernahmen das Beißen – endlich wussten wir, wozu all die Stunden des Trainings gut waren, die sie als fauchendes Knäuel ineinander verkeilt am Kletterseil gehangen hatten. Mit Genuss und großer Genauigkeit schlugen sie schon am ersten Tag ihre Zähne in die Waden der Lichtgestalt, die daraufhin zwar folkloristisch tanzte, sich aber leider nicht in Luft und Liebe auflöste.
Die „Du bist doof, Hihi“ –Fraktion setzte sich aus eher zurückhaltenden, schüchternen Kindern zusammen, die hier mal so richtig aus sich rausgehen durften. Die Wagemutigeren kombinierten ihre Technik mit Pieken, was den anmaßenden Roland jedoch nicht zu einer Namensänderung bewegen konnte.
Ich persönlich schloss mich der „Warum? Warum?“ –Gruppe an, bemerkte aber bald, dass auch diese eher subtile Zermürbungstaktik bei unserem Deva nicht fruchten würde.
Es kann sein, hier verlässt mich meine Erinnerung, dass ich mit der folgenden Verschärfung der Rausekelmaßnahmen am Rande zu tun hatte.
Wir berieten uns kurz, die „Du bist doof, hihi“ –Fraktion wurde auserkoren, den Deva piekend abzulenken. Dann machte sich eine Gruppe Tollkühner, die sich aus Mitgliedern der „Beißen -“ und der „Warum? Warum ?“ – Gruppe zusammensetzte, auf den Weg zur Erzieher -Garderobe, schlich sich an den Eltern vorbei (, die mit übereinander geschlagenen Beinen rauchend in der Küche saßen und darüber diskutierten, ob wir Kinder wohl Recht damit hätten, dass der Deva ein selbstüberschätzender Sack sei, ) und pinkelten dem Deva in die Schuhe.
Er verließ uns mit schwappende Schuhen, eine schwächelnde Lichtfahne hinter sich herziehend, und ward nie mehr gesehen.